Mobile Ticketing: Das Akzeptanzdilemma analog gedachter Entfernungstarife

„Absurditäten im Tarifdschungel“, „So verwirrend ist der neue Tarif“, „Frankfurt lehnt geplantes Tarifsystem RMVsmart ungerecht“, ab“, „Todesstoß aus Frankfurt“: Heftig waren die Schlagzeilen im November 2016 als sich die politische Kampagne des neu ernannten Verkehrsdezernenten vor der RMV-Aufsichtsratssitzung entlud. Sie veranschaulicht, welches Akzeptanzdilemma einem erlösneutral gerechneten und analog gedachten Entfernungstarif innewohnt. Die Innovation ist also breiter zu denken und einzuordnen. Ein Thesenpapier.

 

1. Teure Preissprünge von Tarifzone zu Tarifzone: Die traditionelle Mobilitäts-Flatrate steht immer öfter in Frage

  • Verkehrsverbünde sind eine echte Errungenschaft: Ein Ticket, ein Fahrplan, alle Informationen aus einer Hand. Doch immer mehr Verkehrsverbünde machen sich auf, ihre Tarifstrukturen zu überarbeiten.
  • Gerade flächenhafte Tarifzonen bringen stets Preissprünge von einer Tarifzone zur nächsten mit sich, die immer häufiger kritisiert werden. Das gilt vor allem in zusammengewachsenen Stadtstrukturen wie Frankfurt/Offenbach (1,90 Euro Preissprung) in den Großräumen München (2,80 Euro) oder Hamburg (2 Euro).

2. Come in, check in, be out & Co.: Das Bahnsteig-Drehkreuz im Handy verlockt zu neuen Planspielen

  •  Noch gilt in Deutschland freier Zugang zum Bahnsteig – ganz ohne Sperren. Dennoch schaut man neidisch nach Paris, London, New York und Singapur, wo der Weg zum Bahnsteig erst durch die Sperren führt. Dafür erlauben die eingesetzten Ticketing-Systeme stationsgenaue oder Best-Preis-Abrechnung.
  • Der Wunsch wird immer lauter, nicht nur den bestehenden, analogen Tarif auf dem Handy abzubilden. Die zunehmende Smartphone-Durchdringung führt zu Planspielen, ein völlig neues, digital gedachtes Tarifwerk zu entwickeln.
  • Statt für Millionen physische Bahnsteigsperren zu errichten, verspricht die GPS-Ortungstechnik in jedem Smartphone als Location-Based-Service neue Be-In-Be-Out- oder Check-In-Check-Out-Verfahren.

3. Das Ende der Preissprünge: Entfernungstarife und die vermeintliche Leistungsgerechtigkeit

  • Nun werden kilometrische Tarife entwickelt, die mehr „Leistungsgerechtigkeit“ versprechen sollen. Jeder zahlt das, was man fährt. Klingt für den Fahrgast auf den ersten Blick fair und gerecht – doch Enttäuschung ist groß.
  • Öffentlicher Verkehr steht immer unter dem kritischen Augenmerk der Öffentlichkeit, Medien, Verbände und Politik. Mehdorn sprach von 80 Millionen Bahnchefs. Schnell entstehen intensive Diskussionen – wie eingangs zitiert – und der Wind dreht sich.

4. Vom Preissprung zur Preissteigerung: Teurer wird’s für die, die am wenigsten in der Tasche haben

  • Kilometrische Tarife, die unter dem Dogma der Tarifergiebigkeit kalkuliert sind, führen automatisch zu einem neuen Dilemma: Aus Zonentarifen war der Fahrgast gewohnt, innerhalb seiner Stadt die gleichen Preise zu zahlen – egal wie weit die Reise ging. Es galt das schlüssige Prinzip: Eine Stadt, ein Preis.
  • Mit einem kilometrischen Tarif gelten nun innerhalb der Stadt unterschiedliche Preise – abhängig davon, wie weit ich fahre. Es ist wie ein Schieberegler: Die Erlösneutralität führt zwar zu 50 Prozent weniger zahlenden „Gewinnern“, aber zwangläufig auch zu 50 Prozent mehr zahlenden „Verlierern“.
  • Kurze Strecken und Fahrten kurz über Tarifzonengrenzen werden günstiger. Teurer werden weitere Fahrt bis an den Rand einer Tarifzone – je nach Zonenzuschnitt ist das meistens der Stadtrand. Und wer wohnt dort? Nicht nur die Gutbetuchten in den Villenvororte. Es sind oftmals die sozial Schwächeren – insbesondere in Großwohngebieten und „einfachen“ Wohnvierteln.

Frankfurter Neue Presse, Ressort Frankfurt, vom 4. November 2016

5. Gewinner und Verlierer: Wer glücklich ist schweigt und zuzahlt protestiert

  • Und wie so oft bei akzeptanzkritischen Projekten gilt: Protest ist lauter als Zustimmung. Wer zufrieden ist, schweigt. In der öffentlichen Diskussion sind vor allem die Kritiker zu wahrzunehmen. Schließlich sind Kritik und Konflikte die Trüffel, nach denen Journalisten suchen. Das zeigt auch die Berichterstattung und Onlinekommentierung zu RMVsmart.

6. Mobilisierung in Verbänden, Parteien und Medien: So wird aus der Innovationsbewegung eine Widerstandsbewegung

  • Gerade in den Gliederungen der Parteien und Verbände in „Verlierer-Stadtteilen“ findet dann die Mobilisierung statt – nicht nur bei SPD und Linken sondern auch parteiübergreifend in Bezirksvertretungen.
  • Das führt schnell dazu, dass diejenigen, die als Aufsichtsräte oder Gesellschafter, die Tarifinnovation noch vorangetrieben und gefeiert haben, plötzlich von der eigenen Klientel zurückgepfiffen werden. Der politische Rückhalt schwindet – und Innovationsprojekte sehen sich einem Gegenwind konfrontiert, der erfolgsgefährdend wird.

Gewinner und Verlierer: Das Akzeptanz-Dilemma des Entfernungstarifs kann am Stadtrand eine Gerechtigkeitsdebatte entfachen (Kartengrundlage bild.de)

7. Spärliche Spielräume: Die Schieberegler des Entfernungstarifs greifen zu kurz

  • Unter dem Dogma der Erlösneutralität hat man drei wesentliche Stellschrauben zur Preisgestaltung: a) Den Grundpreis als Einstiegspreis, b) den Arbeitspreis pro gefahrener Strecke und c) die Abstände der „Entfernungen“ z.B. kilometrisch, kommunal oder in Fünf-Kilometer-Waben (wie beim VBB in Brandenburg).
  • Ist der Grundpreis zu hoch, wird der Einstiegspreis teurer als die Kurzstrecke. Ist der Kilometerpreis zu hoch, wird die Verteuerung am Stadtrand zu hoch, sind die Entfernungseinheiten zu lang, wir das Innovative des Entfernungstarifs obsolet.
  • Es entsteht ein Akzeptanzdilemma!

8. Ohne Geld geht’s nicht: Innovationsprojekte sind Investitionsprojekte

  • Akzeptanz gibt es nicht umsonst. Die konstante Tarifergiebigkeit ist die Achillesverse, die die Tarifreform zur reinen Umverteilung macht: Gestern waren die Vielzahler die Fahrgäste kurz hinter der alten Tarifzonengrenze, morgen sind es diejenigen kurz davor. Reine Verschiebung. Nur wenn das Gros der Fahrgäste profitieren, wird der Innovationstarif ein Erfolg. Dann ist es auch akzeptabel, wenn einige Wenige in einzelnen Relationen etwas mehr bezahlen müssen.
  • Doch das gelingt offenkundig nur, wenn für einige Tarifjahre auf die Erlösneutralität des Innovationstarifs verzichtet wird. Sonst folgt nach der Auftaktfeier schnell der Kater: Akzeptanzdilemma und Kritikwelle setzen ein.

9. Echte Innovation denkt vom Morgen: Busse und Bahnen unterliegen einem bisher ungeahnten Wettbewerb

  • Laborstädte der modernen Mobilität wie Berlin, Hamburg, München oder Leipzig machen es vor: Während sich in den vergangenen Jahrzehnten die Wahl auf „Auto oder Öffentliche“ reduzierte, ist die Anzahl der Mobilitätsangebote in den Metropolen explodiert: DriveNow, Car2Go, Flinkster, CarUnity, Drivy, Mobilfalt, Clevershuttle, Flinc, Allygator, Nextbike, CallaBike, Uber, MyDriver, MyTaxi … Inzwischen arbeitet auch die BVG an einem eigenen Ridesharing-Angebot.
  • Solche plattformbasierten Angebote werden dann richtig skalieren, wenn sich der Autonombetrieb immer weiter durchsetzt, und sich die Beschaffungs- und Kilometerkosten in der Produktion so stark minimieren, dass die den Ticketpreisen des ÖPNV nahe kommen. Mit der Förderung des Autonomverkehrs und der Lex-Uber-Debatte tut die Bundesregierung ihr Übriges dazu.
  • Im Stadt- und immer mehr auch im Regionalverkehr steht der Reisende vor einer bisher ungekannt breiten Auswahl an Verkehrsmitteln und Anbietern. Davon sind die allermeisten Mobilitätsanbieter privatwirtschaftlich organisiert – und gehorchen so den Regeln der freien Angebots- und Preisbildung.
  • Fluglinien, Hotels, die Deutschen Bahn und all die Mobilitäts-Start-ups machen es vor: Kreativste Pricing-, Kundengewinnungs- und -bindungs-Modelle entstehen. Die Zahl der verkauften Tickets zum Normalpreis wird zur Minderheit. Der Wettbewerb um den Fahrgast verschärft sich.

10. Der ÖPNV muss um seine Kunden stärker kämpfen: Und das Ticketing kann dabei helfen

  • Der Wert von innovativen Tarifen liegt nicht in der Entfernungstarifierung sondern in den Kundennutzen stiftenden Möglichkeiten des elektronischen Ticketings: Das ist a) Convenience, mit der das Bezahlen in den Hintergrund tritt und nicht mehr zur Einstiegshürde wird – zum Beispiel durch Location-Based-Services wie Be-In-Be-Out- oder Check-In-Check-Out-Verfahren.
  • Das ist b) die Spielartenvielfalt zur Kundengewinnung und -bindung: Mit Yield-Preisen werden schwach nachgefragte Fahrten gefördert (wenngleich deren Lenkungswirkung im ÖPNV erst noch nachzuweisen ist). Mit Couponing – wie es Onlinehändler und Plattformangebote wie Amazon, Foodora oder bahn.de vormachen – werden Neukunden gelockt und Stammkunden belohnt. Mit Bahncard-Angeboten oder Zehnerkarten werden erstmals Gelegenheitsnutzer zwischen dem Barsegment und Zeitkartensegment bedient. Zeitlich begrenzte Aktionsangebote und Fahrpreisrabatte außerhalb der Spitzenzeiten, zu bestimmten Fahrtzielen (z.B. zu Ausflugszielen), Freunde-werben-Freunde-Angebote, Einstiegsrabatte bei Erstanmeldung erlauben immer wieder einen Kommunikationsanlass.
  • Solche Marketing-und Preisinstrumente gilt es von Anfang an zu nutzen.

11. Eines nicht vergessen, es ist Daseinsvorsorge: Pricing nach klaren Regeln

  • Für den ÖPNV muss eines gelten: Als öffentliche Dienstleistung der Daseinsvorsorge, die mit staatlichen Finanzmitteln unterstützt wird, muss ein lauteres Transparenzgebot gelten. Die Preisbildung muss klaren Regeln folgen statt willkürlich zu werden. Ein Innovationstarif wie oben beschrieben findet nur mit Rabatten Akzeptanz, nicht mit Aufschlägen. Und: Genehmigungsfähig nach den gültigen ÖPNV-Gesetzen der Bundesländer sind solche Innovationstarife heutzutage zunächst nur innerhalb von zeitlich begrenzten Pilotprojekts.
  • Nur wer E-Ticketing versteht, wird ihm zustimmen: Als Aufgabe der Daseinsvorsorge ist der ÖPNV staatlich finanziert und reguliert – die Zustimmung für ein E-Ticket obliegt der Zustimmung durch die Gesellschafter bzw. Aufsichtsräte, die in der Regel Entscheider aus der Politik sind. Sie wiederum werden ihre Entscheidungen entlang der öffentlichen Akzeptanzfähigkeit fällen – also ob die politische, mediale und öffentliche Debatte den Verkehrsverbünden und ‑unternehmen die notwendigen Handlungsspielräume fürs E-Ticketing einräumt oder nicht. Eine programmatische Herleitung (Storylining) und eine systematische Akzeptanzbeschaffung (Stakeholder Management) sind dafür die Voraussetzung.

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