Wir fluten jetzt

Der Fall der Mauer

Wie am 9. November 1989 die Mauer fiel. Wie die SED-Führung ungewollt und unbedacht einen wichtigen Schritt auslöste, sich obsolet zu machen. Und welche Rolle die Medien spielten.

Essay, August 2003, Freie Universität/Humboldt-Universität Berlin
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  1. In 30 Tagen um die Welt, ohne Geld
  2. Neues Reisegesetz – Zweiter Versuch
  3. Ab sofort, unverzüglich
  4. Kettenreaktion der Medien
  5. Wir fluten jetzt
  6. Den Ernst der Lage verkannt
  7. Alles nur Zufall?

Der 9. November ist ein geschichtsträchtiges Datum. Während der Novemberrevolution 1918 wurde die erste deutsche Republik proklamiert. Fünf Jahre später begann Hitler seinen Putsch in München. 1938 wurden in der Reichsprogromnacht jüdische Synagogen und Geschäfte in Brand gesetzt. Zumindest letztere Daten sind in der Geschichte eindeutig negativ konnotiert. Dem gegenüber steht kurz vor Ende des Jahrhunderts ein Tag, den die Deutschen fast zum neuen Feiertag erkoren hätten: 1989 wurde über Nacht der 28-jährigen Teilung durch Mauer und Stacheldraht ein Ende gesetzt.

Ein neues Reisegesetz wurde übereilt erarbeitet, nachlässig beschlossen und leichtfertig verkündet. Schabowskis kurze Antwort auf Nachfrage eines Journalisten „Unverzüglich, ab sofort“ löste einen Sturm auf die Grenzen aus. Nicht das Politbüro war es, das die Grenzen öffnete. Die überforderten Grenzer hoben die Schlagbäume. Ein Land, im dem das Planvolle System ist („Planwirtschaft“), tat ganz ungeplant und unbedacht einen wesentlichen Schritt sich selbst aufzulösen.

In 30 Tagen um die Welt, ohne Geld

Ende Juni 1989 wurde an der ungarisch-österreichischen Grenze erstmals der „Eiserne Vorhang“ durchlässig. Damit setzte eine monatelang anhaltende Fluchtwelle über die grüne Grenze oder über die westdeutschen Botschaften in Budapest, Prag und Warschau ein. Die DDR drohte erneut auszubluten – wie schon vor dem Mauerbau 1961.

Hoch waren deshalb die Erwartungen, als am 6. November 1989 der mehrfach angekündigte Entwurf eines neuen Reisegesetzes veröffentlicht wurde. Der Reisezeitraum wurde aus „volkswirtschaftlichen Notwendigkeiten“ auf 30 Tage begrenzt. Aufgrund der Devisenknappheit sollten jedem Reisenden nur einmal im Jahr 15 Mark der DDR in 15 DM eingetauscht werden können. Daneben standen dehnbare Versagungsgründe wie „Schutz der nationalen Sicherheit oder Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral, Rechte und Freiheiten anderer“. Der Entwurf geriet zum Flop: „In dreißig Tagen um die Welt – ohne Geld“ verhöhnten ihn die Demonstranten auf der Straße[1].

Dieser lächerlich geringe Umtauschbetrag ist Spiegelbild der miserablen wirtschaftlichen Situation der DDR. Ende Oktober lag dem Politbüro ein geheimes Papier vor, das besagte: Allein um die Verschuldung zu stoppen, müsse der Lebensstandard um 25 bis 30 Prozent sinken. Die DDR lavierte ökonomisch am Rande des Bankrotts.[2]

Derweil entstand neuer Druck auf die DDR-Führung: Nachdem am 1. November der pass- und visafreie Grenzverkehr zur Tschechoslowakei wiederhergestellt wurde, drängten erneut tausende Ausreisewilliger in der Prager Botschaft der Bundesrepublik. Die Regierung der ČSSR zitierte erbost den Botschafter der DDR und forderte die SED-Spitze auf, den Ausreisestrom zu stoppen.[3]

Neues Reisegesetz – Zweiter Versuch

Das Politbüro beschloss am 7. November, dass eine „Durchführungsbestimmung zur ständigen Ausreise“ auszuarbeiten sei – im Vorlauf eines neuen Reisegesetzes, das erst später ausgearbeitet und im Dezember durch die Volkskammer beschlossen werden sollte.

Im Ministerium des Innern (MdI) traf sich am Donnerstagmorgen des 9. November eine vierköpfige Arbeitsgruppe. Um Reisewillige nicht schlechter zu stellen als Ausreisewillige, entschied man sich, auch Fragen von Privatreisen zu regeln. Ausreisewillige sollten die Ausreise beantragen. Sie würde kurzfristig genehmigt werden. DDR-Bürgern mit Reisepass und Visum sollten Besuchsreisen generell nach Antrag kurzfristig gestattet werden. Kalkül war es, den Ansturm auf die Mauer zu entzerren und den Druck auf die Dienststellen der Volkspolizei zu verlagern – Das Gegenteil sollte passieren. Nur vier Millionen DDR-Bürger hatten einen Reisepass. Alle anderen müssten ihn sich erst anfertigen lassen. Zwar galt für den Beschluss eine Sperrfrist bis zum 10. November 1989, 4:00 Uhr, doch offenbar wurde sie wie üblich nicht notiert.[4]

Innenminister Dickel, Außenminister Fischer, Ministerpräsident Stoph und der stellvertretende Staatssicherheitsminister Neiber stimmten dem Entwurf zu. Dann wurde er ins Zentralkomitee geleitet. Das höchste SED-Leitungsorgan mit seinen 150 Mitgliedern trat ohnehin dieser Tage zu einer dreitägigen Sitzung zusammen. In einer Raucherpause gegen 12 Uhr informierte Egon Krenz die Politbüromitglieder. Sie stimmten der Verordnung zu. Durch ein Umlaufverfahren sollte nun der Ministerrat zustimmen. Per Kurierdienst wurde die vertrauliche Verschlusssache in die Ministerien gebracht; mit der Bitte bis 18:00 Uhr mögliche Einsprüche geltend zu machen. Doch die meisten Minister waren nicht an ihren Arbeitsplätzen sondern bei der ZK-Tagung. Und so wurde ihr Stillschweigen entsprechend der Gepflogenheiten als Einverständnis gewertet. Allein vom Justizministerium ging kurz vor Ablauf der Frist ein Widerspruch ein.

Auf der ZK-Tagung stellte Egon Krenz gegen 16 Uhr den Entwurf vor. Die wenigsten vom Zentralkomitee wussten um die Hintergründe zu diesem Papier. Die Diskussion war verhalten, denn das Plenum konnte die ganze Tragweite des Beschlusses nicht erkennen. Einzig die Worte ‚zeitweilig’ und ‚Übergangsregelung’ wurden gestrichen. Man befürchtete, Ausreisewillige unter Zeitdruck zu setzen. Der Regierungssprecher wurde mit der Veröffentlichung beauftragt.[5]

Dieses Vorgehen veranschaulicht das jahrzehntelang eingespielte Selbstverständnis: Das Zentralkommitee, eigentlich den Ministern weisungsbefugt, wurde als Applaudier-Ausschuss behandelt. Der Entwurf lag den ZK-Mitglieder vorher nicht vor und wurde zum zwischengeschobenen Tagesordnungspunkt degradiert.[6]

Eigenmächtig hob Krenz die Sperrfrist auf. Als „Beschluss des Ministerrats“ lies er gegen 17:00 Uhr den überarbeiteten Text als Fernschreiben in die Bezirks- und Kreisleitungen senden – obwohl die Einspruchfrist noch lief.

Beschlußvorschlag zur Veränderung der Situation der ständigen Ausreise von DDR-Bürgern nach der BRD über die ČSSR wird festgelegt:

  1. Die Verordnung vom 30. November 1988 über Reisen von Bürgern der DDR in das Ausland findet bis zur Inkraftsetzung des neuen Reisegesetzes keine Anwendung mehr.
  2. Ab sofort treten folgende zeitweilige Übergangsregelungen für Reisen und ständige Ausreisen aus der DDR in das Ausland in Kraft:
  3. Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Versagungsgründe werden nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt.
  4. Die zuständigen Abteilungen Paß- und Meldewesen der VDKA in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne daß dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. Die Antragstellung auf ständige Ausreise ist wie bisher auch bei den Abteilungen Innere Angelegenheiten möglich.
  5. Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Berlin (West) erfolgen.
  6. Damit entfällt die vorübergehend ermöglichte Erteilung von entsprechenden Genehmigungen in Auslandsvertretungen der DDR bzw. die ständige Ausreise mit dem Personalausweis der DDR über Drittstaaten.
  7. Über die zeitweilige Übergangsregelungen ist die beigefügte Pressemitteilung am 10. November 1989 zu veröffentlichen.

Verantwortlich: Der Regierungssprecher beim Ministerrat der DDR

„Schabowskis Zettel“: Die Ministerratsvorlage zur Reiseregelung mit den Verbesserungen Krenz’ nach der Diskussion im Zentralkomitee der SED. Quelle: Hertle 1998, S.131

Ab sofort, unverzüglich

Kurz vor 18 Uhr machte sich Günter Schabowski auf dem Weg zum Pressezentrum. Erst einen Tag zuvor wurde er zum neuen ZK-Sekretär für Informationswesen und Medienpolitik gewählt. Seitdem sich das DDR-Fernsehen mehr und mehr liberalisierte, übertrug es live die neue, tägliche Pressekonferenz nach den ZK-Tagungen.

Schabowski war nicht die ganze Zeit bei den ZK-Beratungen anwesend, da er Journalisten Interviews gab. Auch den Beschluss zur Reiseverordnung hatte er verpasst. So erkundigte er sich bei Krenz nach mitteilenswerten Neuigkeiten. Dieser gab ihm sein Exemplar der Reiseregelung: Nach Schabowski mit den Worten: „Gib das bekannt. Das wird ein Knüller für uns.“ Nach Krenz’ mit den Worten: „Das ist doch die Weltnachricht.“ Krenz hob spontan, eigenmächtig, ohne weitere Erläuterung die Sperrfrist auf. [7]

Schabowski erinnert sich, er fuhr „in Kenntnis unserer Absichten und in Besitz des Regierungspapiers“ zum Internationalen Pressezentrum. Dass es ein „vom Kabinett noch unbestätigter Beschluss“ ist, wusste er nicht. Thema der Pressekonferenz waren Verlauf und Ergebnisse der Tagung des SED-Zentralkomitees. Anwesende Journalisten beschrieben die Veranstaltung als langatmig und inhaltsarm. Doch kurz vor Schluss, um 18:53 Uhr, stellte der italienische Korrespondent Riccardo Ehrmann die entscheidende Frage: „Glauben Sie nicht, dass es war ein großer Fehler, diesen Reisegesetzentwurf, das Sie haben vorgestellt vor wenigen Tagen?“ Schabowski kündigte an, dass heute eine neue Entscheidung getroffen worden sei. Sie mache es „jedem Bürger der DDR möglich, über die Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.“ Er blätterte in seinen Unterlagen und las das Papier vor. „Wann tritt das in Kraft?“, fragte jemand im Plenum. Schabowski antwortete: „Das tritt nach meiner Kenntnis… ist das sofort, unverzüglich.“ Auf Nachfrage ergänzte er, dass die Ausreise auch nach West-Berlin möglich sei. Er machte aber darauf aufmerksam, dass „der Sinn der befestigten Staatsgrenze“ nicht in Frage gestellt ist.[8]

Als Schabowski zur Reiseregelung sprach, wirkte er wenig sicher und vorbereitet. In seinen Erinnerungen betont er, es war ihm „an einer beiläufigen Optik (…) gelegen“, um durch ihn als „SED-Sprecher nicht den Eindruck des alten Machtmusters“ zu erwecken. Er wollte mit dieser „Information nicht den eigentlichen Gegenstand der Pressekonferenz, die ZK-Tagung, in den Hintergrund spielen.“[9]

Kettenreaktion der Medien

Bei den meisten Journalisten hatte die Pressekonferenz ein großes Rätselraten über die schwer verständlichen Informationen hinterlassen. Doch nach wenigen Minuten gingen erste Meldungen über die Ticker der Nachrichtenagenturen. Innerhalb von vier Stunden überschlugen sich die Überschriften. Die Medienberichterstattung entwickelte eine eigene Dynamik, die über die vorliegenden Fakten hinausging.

Reuters und DPA (um 19:03 bzw. 19:04 Uhr) vermeldeten, ab sofort sei die ständige Ausreise über die Grenzübergangsstellen der DDR möglich. Associated Press interpretierte die Reiseregelung bereits als Grenzöffnung (19:05 Uhr). Auch DDR-Nachrichtenagentur ADN versandte in Absprache mit dem Regierungssprecher eine Meldung. Man hob die Sperrfrist für die Pressemitteilung des Ministerrats auf. Ein klärender Satz, die Regelung gelte erst ab dem nächsten Tag, wurde aber nicht ergänzt.

In den „heute“-Nachrichten im ZDF gleich nach Ende der Pressekonferenz um 19:00 Uhr folgten die Redakteure in ihrer sechsten Meldung den Agenturmeldungen und hoben die Möglichkeit der Ausreise hervor. Bei der „Aktuellen Kamera“ des DDR-Fernsehens um 19:30 Uhr betonten die Redakteure, dass „Privatreisen nach dem Ausland ab sofort und ohne besondere Anlässe beantragt werden können“. Allein der Regierende Bürgermeister West-Berlins, Walter Momper, erkannte in der SFB-Abendschau um 19:30 Uhr die Intention der Reiseregelung: „praktisch morgen geht es los.“ Die ARD-„Tagesschau“ um 20:00 Uhr eröffnete bereits mit der Überschrift „DDR öffnet Grenze“. Der Reporter kommentierte: „Die Mauer soll über Nacht durchlässig werden.“

Währenddessen erneuerte Associated Press und DPA ihre Meldungen popularisierend: „Die sensationelle Meldung: Die DDR-Grenze zur Bundesrepublik und nach West-Berlin ist offen“. Das DDR-Fernsehen bemüht sich die Berichte ein wenig zurechtzurücken. Die Spätnachrichten „AK ZWO“ gegen 22:30 Uhr stellen klar, dass zunächst die Reisen bei der Volkspolizei zu beantragen seien. Erst nach der Genehmigung sei die Ausreise möglich. Der Moderator der ARD-„Tagesthemen“ eröffnete die Sendung gegen 22:45 Uhr mit den Worten: „Die Tore in der Mauer stehen weit offen“. Doch diese Ansage war verfrüht. Noch waren es wenige Ausgewählte, die von den Grenzposten nach West-Berlin gelassen wurden. Gefallen ist die Berliner Mauer erst eine Dreiviertelstunde später. [10]

Wir fluten jetzt

Praktisch niemand aus der politischen Führung der DDR hatte Schabowskis Verkündung verfolgt. Die ZK-Tagung endete erst um 20:45 Uhr. Doch noch während der Sitzung begann der Sturm auf die völlig unvorbereiteten Grenzübergangsstellen (GÜST) in Berlin. Um 20:15 Uhr hatten sich laut Lagebericht der Volkspolizei an den Grenzübergängen Sonnenallee bereits zehn, Invalidenstraße zwanzig und Bornholmer Straße fünfzig Ausreisewillige eingefunden. Also gab der Stabschef im MdI um 20:45 Uhr die Anweisung: „Sollten an den Kontrollpunkten vor den Grenzübergangsstellen Bürger der DDR mit Personalausweis erscheinen und wollen in die BRD ausreisen, sind diese passieren zu lassen“. Alle weiteren Maßnahmen „werden in der GÜST getroffen“. Damit verlagerte er den Handlungs- und Entscheidungsdruck an die übrigen Akteure vor Ort.[11]

Besonderen Zulauf erlebte die GÜST Bornholmer Straße an der Bösebrücke. Innerhalb kurzer Zeit versammelten sich hier hunderte, rasch tausende Menschen. Sie lag am Rande des „Szenebezirks“ Prenzlauer Berg. Hier gab es schon damals zahlreiche Kneipen und Cafés – Orte, an denen sich Nachrichten schnell herumsprachen. Eine bestimmte Klientel war es, die in den Mietskasernen wohnte: Eine Alternativszene zum allgemeinen Lebensbild in der DDR. Die nahe liegenden evangelischen Kirchengemeinden Zion und Gethsemane waren Horte der aufbegehrenden Bürgerbewegung in der DDR.

Diensthabender Leiter der Passkontrolle am Grenzübergang Bornholmer Straße war an diesem Abend Harald Jäger, Offizier der Grenztruppen war Manfred Sens. Zwar waren die Kräfte an der Grenze mit Pistolen bewaffnet, aber seit Anfang 1989 hatten sie Anweisung nicht zu schießen. Somit war die Gefahr des Waffeneinsatzes nahezu ausgeschlossen. Um 19:30 Uhr rief Jäger das erste Mal Rudi Ziegenhorn, in der MfS-Hauptabteilung für Passkontrolle, Reise- und Transitverkehr, Fahndung an. Dieser meinte, die Ausreisewilligen seien auf den nächsten Tag zu vertrösten. Bereits eine Stunde später waren es „tausende, und wir konnten nicht mehr überblicken, wie weit die Massen zurück standen“, berichtet Jäger.[12]

Aus einem Streifenwagen bat man über Lautsprecher den Platz vor der GÜST räumen und sich an die Meldestellen zur Ausreisegenehmigung wenden. Doch aus der Masse zitierte man die Fernsehnachrichten: „Ab sofort“. Der Polizist kam zu Sens und Jäger in die Dienststelle. Alle drei informierten ihre Organe, erhielten aber nur die Mitteilung, die Bürger seien zur Volkspolizei zu schicken. Viele kehrten erzürnt zurück, weil man dort von nichts wusste.[13]

Gegen 21 Uhr forderte die Menschenmenge lautstark die Öffnung des Schlagbaums. Der PKW-Rückstau reichte mehr als einen Kilometer bis in die Schönhauser Allee. Jäger sah sich nicht länger in der Lage, die GÜST mit seinen 14 Passkontrolleuren (PKE), den fünf Grenzsoldaten und den 16 bis 18 Zollkontrolleuren zu halten. Auch die Ausrüstung der Mitarbeiter war nicht geeignet, um einen Massenansturm zu verteidigen. Er löste „stillen Alarm“ aus und holte 50 bis 60 Mann zur Verstärkung.[14]

Daraufhin rief Jäger wieder im MfS bei Ziegenhorn an. Er bat ihn „die Bürger ausreisen lassen zu dürfen, weil [sie] dem Druck nicht mehr standhalten können.“ Ziegenhorn sprach sich mit dem stellvertretenden Staatssicherheitsminister ab und wies an: „Die am aufsässigsten sind, […] die laß raus. Denen macht ihr im Ausweis einen Stempel halb über das Lichtbild – und die kommen nicht wieder rein“. Bei dieser „Ventillösung“ wurden ab etwa 21:15 Uhr einzelne Bürger in den Abfertigungsbereich der GÜST gelassen. Doch als die Übrigen mitbekamen, dass Einzelne „hinaus“ durften, verstärkte sich der Druck.[15]

Um 23:30 Uhr[16] rief Jäger abermals Ziegenhorn an: „Es ist nicht mehr zu halten, wir müssen die Grenzübergangsstelle aufmachen […]. Ich stelle die Kontrollen ein und lasse die Leute raus.“ Er reagierte nur mit einem „Na, ist gut!“. Der stellvertretende Leiter der Passkontrolleinheiten verständigt Sens: „Wir fluten jetzt!“ Die Mitarbeiter der Vorkontrolle lösten den Schlagbaum, Sens hob ihn und tausende Menschen strömten in die Grenzanlage. Sie überrannten die Kontrolleinrichtungen und wurden auf der West-Berliner Seite bereits begrüßt. An Kontrollen war in dieser Situation nicht mehr zu denken.[17]

Vergleichbares ist an den übrigen Berliner Grenzübergangsstellen geschehen. Zunächst wurden Hartnäckige ausgebürgert. Bis Mitternacht öffneten alle GÜST schließlich die Schlagbäume. 60.000 Menschen durchquerten in dieser Nacht von Ost nach West die Mauer. Die volksfestartigen Szenen sind aus der Medienberichterstattung hinlänglich bekannt. Momper fasst am folgenden Tag die Stimmung mit „gestern Nacht war das deutsche Volk das glücklichste Volk auf der Welt“ zusammen.[18]

Den Ernst der Lage verkannt

Einen Befehl zur Grenzöffnung der militärischen Führung der DDR gab es in dieser Nacht nicht. Die obersten Militärs fuhren nach der ZK-Sitzung (um 20:45 Uhr) ins Verteidigungsministerium nach Strausberg zur nächsten Kollegiumssitzung. Sie bemaßen Krenz’ Reiseregelung keine größere Bedeutung für ihr Ressort zu. Eine Information oder Vorbereitung der Grenzregimenter blieb aus. Von der Pressekonferenz hatten sie nichts erfahren. Es gab in der militärischen Führung keinen Versuch, die Lage im Kollegium zu erörtern. Man ging gegen 0:30 Uhr ohne konkrete Entscheidung auseinander.[19]

In der Wahrnehmung der Militärs drängten an der Grenze Ausreisewillige. Dass es nur Reiselustige waren, erkannten sie nicht. Darum ging ein Fernschreiben an die GÜST mit der Aufforderung, die Personalausweise mit einem Ausreisevermerk zu versehen, also neben dem Passbild abzustempeln. Dieser galt „zugleich als Entwertungsvermerk“. Es wäre die größte Ausbürgerungsaktion der DDR geworden.

Auch in der politischen Führung lässt sich kein zentraler Befehl nachweisen. Krenz und Schabowski wollen glauben machen, es hätte gegen 21 Uhr ein Telefonat zwischen Staatssicherheitsminister Erich Mielke und Generalsekretär Egon Krenz gegeben. Dabei hätten sie entschieden, die Schlagbäume zu öffnen. Aber ZK-Mitglieder berichten, Krenz hätte eher verstört und nicht auskunftsfähig gewirkt.[20]

Am nächsten Tag wurde die ZK-Tagung fortgesetzt. Zunächst ohne auf die nächtlichen Ereignisse einzugehen. Unter dem Drängen Moskaus nahm Krenz Stellung und verschleierte: „Ich weiß nicht oder ob viele den ernst der Lage erkannt haben. Der Druck, der bis gestern auf die tschechoslowakische Grenze gerichtet war, ist seit heute Nacht auf unsere Grenze gerichtet. […] Der Druck war nicht mehr zu halten, es hätte nur eine militärische Lösung gegeben. Genossen, damit sind wir uns einig, durch das besonnene Verhalten unserer Grenzsoldaten, unserer Genossen vom MdI, vom MfS ist die Sache mit großer Ruhe bewältigt worden. […] Aber der Druck nimmt weiter zu.“ Deutlicher wurde auf diese einschneidende Situation nicht eingegangen.[21]

Die Militärs der DDR hatten auf Befehl des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrats Krenz eine Operative Einsatztruppe gebildet und für mehrere Regimenter erhöhte Gefechtsbereitschaft angeordnet. Aber ein militärisches Eingreifen bleibt aus. Im Lagebericht hieß es nüchtern: „Trotz der entstandenen komplizierten Lagen kam es nicht zu Zwischenfällen oder Provokationen, vereinzelt sogar zu Sympathiebekundungen gegenüber den uniformierten Kräften“. Gewalt als Mittel – im schlimmsten Fall als ‚chinesische Lösung’ – wurde unisono abgelehnt. [22]

Alles nur Zufall?

Der Fall der Mauer war ein weiterer Schritt in der Auflösung der DDR. Am 10. November galt ab 8:00 Uhr die Visumpflicht. Eilig wurden mobile Außenstellen auf Lastkraftwagen und neue Grenzübergänge errichtet. Das Visum hatte nur noch symbolischen Wert. Am Wochenende 11./12. November passierten zweieinhalb Millionen DDR-Bürger die Grenze. Sowjet- und DDR-Armee verzichteten darauf, mit Waffengewalt ihre Westgrenze wiederherzustellen. Die Kontrolle über die Staatsgrenze war verloren. Die Mauer, die die DDR 28 Jahre lang zusammenhielt, wurde von „Mauerspechten“ Stück für Stück abgebrochen.

Der stellvertretende sowjetische Botschafter Igor F. Maximytschew fasst die Situation für sein Land so zusammen: „Für den Kreml ist es unmissverständlich der Rückzug aus Mitteleuropa. Wahrscheinlich verbunden mit einem Rückzug aus dem politischen und wirtschaftlichen Europa.“[23] Die sozialistische Hemisphäre zerfällt unaufhaltsam weiter.

Der Mauerfall war in dieser Form von keiner Institution gewollt oder geplant. Vielmehr war er Ergebnis zahlreicher Ad-hoc-Entscheidungen entgegen der sonst üblichen und streng befolgten Routinen. Die Krise geriet aus dem Ruder. Vier Punkte seien beispielhaft genannt:

  1. Das planwidrige Zusammenspiel von Krenz und Schabowski
  2. die Kettenreaktion durch die Medien
  3. der Massenandrang an der Grenze aufgrund von Fehlinterpretationen und Falschinformationen
  4. und schließlich die „Ventillösung“, die statt Druck mindernd, beschleunigend wirkte.

Politische und militärische Führung war mit der Situation der Wende im Allgemeinen und mit der Situation des Mauerfalls im Speziellen überfordert. Es wird der Eindruck einer gewissen Naivität gegenüber den drängenden Problemen erweckt. Das Politbüro verkannte die Zeichen der Zeit. Anstatt sich an große Veränderungen zu wagen, löste es mit seinen Entscheidungen, wie dem Reisegesetzentwurf vom 6. November, nur neuen Protest aus.

Mit der neuen „Durchführungsbestimmung zur ständigen Ausreise“ wurden zahlreiche Verfahrensfehler begangen. Rechtskraft konnte die Vorlage erst durch den nicht abgewarteten Ministerratsbeschluss und nicht nur durch die Zustimmung des ZK erhalten. Außerdem ist es unsinnig, einem noch nicht existierenden Reisegesetz eine Durchführungsbestimmung vorauszuschicken.

Während der ZK-Tagung erwies sich das Gremium als selbstbeschränkt und strukturell unfähig: Sowohl vor dem Mauerfall, als Krenz den Reisegesetzentwurf verlas, als auch nach dem Mauerfall, als er am 10. November Stellung zu den nächtlichen Ereignissen bezog. Es gelang dem Zentralkomitee aus der geübten Trägheit aktiv zu werden, einen gemeinsamen Willen zu bilden oder eine eigene Entscheidung zu finden. Die größte Existenzkrise der DDR wurde der operativen Politik des Generalsekretärs und seiner Vertrauten überlassen. Seine eigentliche Aufgabe als politikstrukturierendes Gremium verfehlte es.

Die Ausführungen zu den Ereignissen in den wenigen Stunden vor dem Mauerfall am Grenzübergang zeigen, dass der militärisch-hierarchisch organisierte Machtapparat nicht aus eigenem Antrieb funktionierte. Die oberen, befehlsgebenden Ebenen scheinen weg gebrochen, Anweisungen waren offenbar nicht zu erwarten. Bis zum letztmöglichen Zeitpunkt wurde verharrt und abgewartet. Die Oberbefehlshaber meldeten sich nicht. So blieb den ausführenden Organen vor Ort nur noch die eigene Entscheidung, dem Druck der Masse nachzugeben.

Es wird deutlich: auf eine Krise war die SED nicht vorbereitet. Die Handlungen der politischen Führung lassen keinerlei Konzept erkennen. Vielmehr scheint sie nur noch zu Reagieren statt zu Agieren. Das Krisenmanagement versagte unter dem enormen Problemdruck. Zeugnisgebend für das schlechte Krisenmanagement ist, wie sich im Nachhinein Krenz und Schabowski ihre Version der Abläufe zurecht legten. Von der Geschichtsforschung, der DDR-typischen, preußisch detaillierten Aktenlage, sowie den Erinnerungen derer, die auf den Kontrollposten auf Anweisungen warteten, wurden sie durchschaut.

Schließlich sind es Grenzsoldaten, die beschlossen, dass die Mauer fiel. Damit war nicht nur die deutsch-deutsche Grenze gestürzt, die die Jahrzehnte die Welt in zwei politische Einflussbereiche teilte. Es war ein entscheidender Schritt zur Auflösung der DDR. Bald hieß es auf den Demonstrationen nicht mehr „Wir sind das Volk“ sondern „Wir sind ein Volk“. Die Staats- und Parteiführung hatte das Zepter des Handelns längst aus der Hand gelegt.


Literatur

  • BAHRMANN, Hannes und Christoph LINKS: Chronik der Wende. Die Ereignisse in der DDR zwischen 7. Oktober 1989 und 18. März 1990. Berlin, 1999 (überarbeitete Neuauflage).
  • BOLLIN, Christina und Peter FISCHER-BOLLIN: Mauer. In: Karl-Rudolf KORTE und Werner Weidenfeld (Hrsg.): Handbuch zur deutschen Einheit 1949 – 1989 – 1999. Bonn, 1999 (aktualisierte und erweiterte Neuausgabe).
  • HERTLE, Hans-Hermann: „Kontrollen eingestellt – nicht mehr in der Lage – Punkt“. Wie die Mauer am Grenzübergang Bornholmer Straße fiel. In: Deutschland-Archiv, 28. Jahrgang. Opladen, 1995.
  • HERTLE, Hans-Hermann: Der Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates. Opladen, 1996.
  • HERTLE, Hans-Hermann: Wußte der eine, was der andere tat? SED und MfS beim Mauerfall. In: Siegfried SUCKERT und Walther SÜß (Hrsg.): Staatsapparat und Staatssicherheit. Berlin, 1997.
  • HERTLE, Hans-Hermann: Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November. Berlin, 1998 (7. überarbeitete Auflage).
  • HERTLE, Hans-Hermann und Günther SCHOLZ: Als die Mauer fiel. 50 Stunden, die die Welt veränderten. SFBDokumtent (Video). Berlin, o.J.
  • HOLZWEIßIG, Gunter: Massenmedien in der DDR. Erschienen in: Jürgen Wilke (Hrsg.). Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bonn, 1999.
  • KESSLER, Heinz: Zur Sache und zur Person. Berlin, 1996.
  • KOTSCHEMASSOW, Wjatscheslaw: Meine letzte Mission. Berlin, 1994.
  • KRENZ, Egon: Wenn Mauern fallen. Die Friedliche Revolution. Berlin, 1990.
  • LEHMANN, Hans Georg: Deutschland-Chronik 1945 bis 2000. Bonn, 2002.
  • LINDNER, Bernd: Die demokratische Revolution in der DDR 1989/90. Bonn, 2001.
  • MAXIMYTSCHEW, Igor F.: Vom Mauerfall bis Archys. Neun entscheidende Monate, miterlebt in der sowjetischen Botschaft Unter den Linden. In: Deutschland-Archiv, 31. Jahrgang. Opladen, 2001.
  • PRZYBYLSKI, Peter: Tatort Politbüro. Die Akte Honecker. Berlin, 1991.
  • SCHABOWSKI, Günter: Der Absturz, Berlin 1991.
  • TELTSCHIK, Horst: 329 Tage. Innenansichten der Einigung. Berlin, 1993.
  • VON PLATO, Alexander: Die Vereinigung Deutschlands – ein weltpolitisches Machtspiel. Bonn, 2003 (zweite, durchgesehene Auflage).

Fußnoten

[1] Hertle 1997, S.273, Hertle 1998, S. 90ff., sowie Lindner 2001, S. 87.

[2] Maximytschew 2001, S. 30, von Plato 2003, S. 84, Hertle 1996, S. 313-321.

[3] Bollin 1999, S. 556, Hertle 1997, S. 274.

[4] Bollin 1999, S. 556, Hertle 1996, S. 322-335.

[5] Hertle 1998, S. 130-133, Egon Krenz’ (Krenz 1990, S.179ff.).

[6] Hertle 1998, S. 133. Keßler 1996, S. 304.

[7] Schabowski 1991, S. 306f. bzw. Krenz 1990, S. 182.

[8] Hertle 1998, S. 142ff., Schabowski 1991, S. 307f., Szenen der Pressekonferenz sind in dem Film „Als die Mauer fiel. 50 Stunden, die die Welt veränderten“ (Hertle/ Scholz, o.J.) zu sehen.

[9] Schabowski 1991, S. 307.

[10] Hertle 1998, S.150-155, Hertle/Scholz o.J.

[11] Hertle 1998, S. 155f.

[12] Hertle 1995, S. 1129f.

[13] Hertle 1998, S. 162., Hertle 1995, S. 1130.

[14] Hertle 1998, S. 163.

[15] Hertle 1995, S. 1130f., Hertle 1998, S. 163-166.

[16] Zum Zeitpunkt der endgültigen Grenzöffnung gibt es widersprüchliche Angaben. Während die meisten (besonders die älteren) Quellen und Interviewpartner (z.B. Harald Jäger in: Hertle 1995, S. 1133) als Zeitpunkt 22:30 Uhr nennen, korrigiert Hertle ab der sechsten Auflage seiner „Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November“ die Uhrzeit auf 23:30 Uhr. Er entnimmt den Zeitpunkt Dokumentations-Filmmaterial von Spiegel TV (Hertle 1998, S. 12)

[17] Hertle 1998, S. 166, Hertle 1995, S. 1133.

[18] Maximytschew 2001, S. 30. Lehmann 2002, S. 377.

[19] Hertle 1995, S.192-205, Keßler 1996, S. 305f., Hertle 1996, S.362-379.

[20] Krenz 1990, S. 183, Schabowski 1991, S. 310, Keßler 1996, S. 308, Hertle 1998, S. 204f.

[21] Hertle 1998, S. 206-211.

[22] Hertle 1998, S. 211-230.

[23] Maximytschew 2001, S. 29